Etappe, Wetter, Land und Leute
Der Titel des heutigen Tages sollte eigentlich „Halftime“ lauten. Ein anderes Ereignis war mir wichtiger. Dennoch soll es natürlich nicht unerwähnt bleiben. Mit dem Durchschreiten des Tores in Sahagún habe ich die Hälfte der Strecke hinter mir. Unglaublich. Ich gehe kein Risiko ein und lass mir das amtlich in Form eines Pilgerbriefes bestätigen. Wäre ja möglich, dass irgendwann mal jemand beim jüngsten Gericht danach fragt, vielleicht sind damit ja die Hälfte der Sünden erlassen. Das wird für das Himmelreich nicht ganz reichen, aber vielleicht wird das Fegefeuer dann nicht ganz so heiss geschürt. Man muss halt nur feste dran glauben. Es ging heute in 7 Stunden über 26 KM von Ledigos nach Bercianos. Die Strecke war teils schön, teils führte sie an der Autobahn vorbei. Sonnenschein bei angenehmen 22 Grad und erfrischendem Wind. Mit dem Backofen von gestern nicht zu vergleichen.
Stimmung
Gestern war ich nach der Höllenetappe völlig fertig. Noch gemeinsam mit Jennifer, Charlotte, Raul und Matheo in der Herberge was gegessen. Wir hatten zufällig alle die gleiche Herberge gebucht. Obwohl das auch nicht schwer war, es gab nur zwei. Matheo ist Amerikaner, ich kannte ihn schon aus Burgos. Er ist Fussballfan, ungewöhnlich für einen Amerikaner. Danach fährt er nach Deutschland, um sich zwei Spiele anzuschauen, noch ungewöhnlicher. Dann bin ich totmüde um 21.30 Uhr ins Bett. Ich hatte ein tolles Zimmer für mich, ein tolles Bett und einen erholsamen Schlaf. Die Stimmung war grandios, emotional und intensiv heute. Ausgeschlafen, fit und gutgelaunt bin ich um 7.15 Uhr gestartet. Ich liebe den Moment zwischen Nacht und Tag an einem frühen Sommertag, wenn es auf der einen Seite noch kühl ist, und die Kälte langsam von den ersten Sonnenstrahlen verdrängt wird. Alles ist noch still und der Tag liegt vor dir. Ein leichter Wind streifte durch die Äste der Bäume, die ersten Sonnenstrahlen auf der Haut vertrieb die Kälte und ich fühlte mich in unbeschwerte frühe Jugendjahre zurückversetzt. Dachte an die Zeit an der Ostsee im Sommer. Man liegt am Strand, 6 Wochen Schulferien vor dir, in dem Alter muss man sich um nichts kümmern, die Welt liegt vor einem und man lebt sorgenfrei in den Tag. Macht sich maximal Gedanken darüber, wie man die Mädels 5 Meter weiter am besten anspricht. Ansonsten gibt es keine Verpflichtungen, man ist zufrieden, wie es grad ist. Schönes Gefühl. Dann kamen mir plötzlich meine verstorbenen Eltern in den Sinn, die das für uns ermöglicht haben. Und ich weiß nicht warum, aber das Gefühl kam völlig überraschend, unvermittelt und intensiv. Ich hatte Tränen in den Augen. Die, die mich kennen, wissen, dass ich alles andere als nahe am Wasser gebaut bin. Es hat mich plötzlich einfach überwältigt. Ist schon komisch, was der Weg mit einem macht. Hatte es auch gelesen, irgendwann trifft es jeden auf dem Weg. Hatte ich zwar nicht geglaubt, ist jetzt aber so. Dreimal tief durchatmen. Das Gefühl der Traurigkeit ist dann ein Gefühl der Dankbarkeit gewichen. Dankbar, dass ich so ein Gefühl anscheinend mit meinen Eltern verknüpfe, die es trotz der sicher nicht einfachen Umstände seiner Zeit ermöglicht haben, dass ich dieses sorgenfreie Gefühl überhaupt erleben durfte. Ich bin dann mit einem sehr zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht, eigentlich war es schon ein ausgewachsenes Lachen, weiter gewandert. Dabei verspürte ich eine Mischung aus Dankbarkeit und diesem sorgenfreien, unbeschwerten Gefühl aus den Jugendjahren, wenn die Welt noch vor einem liegt. Grandioses Gefühl, dass ich gern konservieren möchte, um es bei Bedarf einfach rauszuholen. Irgendwie schoss mir dabei das Lied von ABBA in den Kopf: Thank you for the music“. Weiß auch nicht warum, wahrscheinlich, weil es dann einzige ist, dass ich kenne und irgendeine Dankbarkeit ausdrückt. Ist auch egal, passt finde ich grad ganz gut zu meiner Stimmung und ich sollte es den Rest des Weges vor mir her summen. Der Weg verging wie im Flug. Keine Probleme heute. Später sollte ich noch Simon treffen, dem ich von meiner Stimmung auf dem Weg berichte. Sein Vater ist mit 95 Jahren im Januar verstorben. Er fragte mich, ob ich Kinder hätte. „Yes, a wonderful daughter, 17 years old“, antwortete ich „Me too, challenging age, but if things don’t go well, she knows that I will always love her“, sagte er.„I also said that to my daughter, probably not often enough“, sagte ich. Wer weiß, vielleicht liest sie ja mit😉
Erlebnis des Tages
Dankbarkeit und Unbeschwertheit so intensiv erleben zu dürfen.
Erkenntnis des Tages
Thank you for the music, Muttern und Vattern.
Fotos des Tages
















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